Otto Steidle: Bewohnbare Bauten
- Drehbuch (Auszüge) -

8. MÜNCHEN, LEOPOLDSTRASSE – AUSSEN - TAG


Die Mittagssonne leuchtet. Fahrt durch die Leopoldstraße. Der Verkehr fließt vorbei an grauen Geschäftsbauten, die sich aneinander reihen. Im Fokus jedoch, von Anfang an, ein knallgelbes Haus. Zunächst als gelber Fleck in der Flucht des Bildes, doch bald wird der Bau erkennbar. Er hat eine eigentümliche Form ...

SPRECHER 2 (zitiert Steidle): Ich freue mich an der Temperatur, die ein Haus
erzeugt. Ich suche das Spezifische genauso wie das Normale und sehe keinen Konflikt zwischen der Forderung nach Konsens und dem eigenen Wunsch nach Originalität.

... Es ist ein knallgelbes Wohn- und Geschäftshaus, aus dem ein eigensinniges Türmchen aufragt ...

Wohn- und GeschäftshausWohn- und Geschäftshaus

SPRECHER 2 (zitiert Steidle): Was Farbe für die Architektur, für ein Haus bedeutet,
zeigt unser gelbes Haus in München-Schwabing: Ein gelber, schlanker, hoher Turm in der Nachbarschaft eines großen Kaufhauses mit viel grauem Glas.

... Beide Gebäude im Bild, der graue Kaufhausklotz neben dem Steidle-Haus. Dann Groß auf den dominierenden Turm des gelben Hauses ...

SPRECHER 2 (fährt fort): Die Leopoldstraße stellt hier eine Aufgabe: David gegen
Goliath. Ein eher kleines, bürgerliches Haus muss die Kraft haben, dass es sich gegen das Monstrum des großen Kaufhauses durchsetzt, damit der bürgerliche Charakter der Leopoldstraße gewinnt. Zu dem turmartigen Haus haben wir die Stärke der Farbe genommen. David gegen Goliath gewinnt!

... verschiedene Ansichten des Hauses. Alles ist komplett in Gelb gehalten ...

SPRECHER 2 (fährt fort): In dem Haus ist alles Gelb. Da sind die Fensterstöcke
geld, das Vordach gelb, alle Fassadenteile gelb. Putz, Beton, Holz, Stahl, die verschiedenen Materialien in der gleichen Farbe verleihen dem Gelb eine flächen- und körperbildende Kraft. Das Haus war in den Überlegungen und Skizzen auch schon mal grün oder auch schon mal blau. Es passte erst, als es gelb war. Nicht Schönbrunner- oder Nymphenburger Gelb, sondern ein Gelb, das auch modern genannt werden kann. Das Haus ist durchfärbtes Mais-Gelb.

... weitere Ansichten, die jetzt immer mehr in Details gehen. Fensterstöcke, Vordach, Fassadenteile ... Alles in Gelb. Deutlich erkennbar sind jetzt die einzelnen Materialien, die dem Gelb verschiedene Aussagen verleihen.

SPRECHER 1: Steidle versteht es, sich zu integrieren, Traditionen zu wahren und
zugleich das Individuelle auszugestalten. Von weitem betrachtet, sind es Bauten. Ihre Seele zeigt sich vor allem in der Nahaufnahme.  

(…)

11. HAMBURG, HAFEN UND SPEICHERSTADT – AUSSEN - TAG


Das graue Band der Elbe, Schiffsverkehr. Der Hamburger Hafen am späten Nachmittag. Im Hintergrund die Kräne des Containerterminals, vor dem Fluss eine Promenade, auf der Menschen spazieren ...

SPRECHER 2 (zitiert Steidle): Wie steht ein Haus zur Stadt? Wie verlängert sich
der offene Geist einer Stadt in das Haus hinein?

... davor verschafft eine U-Bahntrasse über gläserne Kanäle Zugang zu einem beeindruckenden Geschäftsbau am Hafenrand ...
Geschäftsbau am Hafenrand


SPRECHER 1: Das Pressehaus Gruner & Jahr, das Steidle in den Jahren 1984 bis 1991
zusammen mit Uwe Kiessler entwickelt. Es integriert sich eindrucksvoll in den Hamburger Hafenrand.
Vier Hauptschiffe sind zur Elbe hin ausgerichtet.




... Das Gebäude rückt näher heran. Seine Elemente zeigen unverkennbar, dass Hafen und Schiffe die Architekten inspiriert haben.

Pressehaus Gruner & Jahr
SPRECHER 1: Ein glänzender Stahlbau mit Bullaugen-Fenstern, relingartigen
Außentreppen und Balkonen. Die schrägen Seitenstützen erinnern an Stützen im Trockendock...

Es ist ein Ozeanriese für Journalisten.

... Impressionen von der Innen- und Hofanlage des Gruner und Jahr-Baus ...


SPRECHER 1: Zugleich ist es eine Stadt in der Stadt für 2500 Mitarbeiter, mit
öffentlichen Parks, Straßen und Plätzen. Die vier Hauptschiffe sind durch gläserne Laufstege miteinander verbunden, der ganze Bau ist voller Leben.

Es ist ein eigener kleiner Geschäftskosmos mitten im Herz von Hamburg.

... Groß auf eine Glasfassade, hinter der sich das Innere der Büros abzeichnet ...

SPRECHER 1: Es ist immer wieder dieser Städtebau, derSteidle am meisten
fasziniert.Er selbst aber bleibt in seiner Heimat verwurzelt.

(...)

16. HARPFING, NIEDERBAYERN – AUSSEN – ABEND


Abenddämmerung. Der Hof in Niederbayern rückt langsam wieder in die Ferne, während sich die Nacht über die weite Landschaft legt. Nur in einem der verwitterten Fenster brennt noch Licht.

Sprecher 2 (zitiert Steidle): Ich baue an einer Welt nicht nach einem
übergeordnetem Ziel und auch nicht aus einem Glauben an die Verbesserung und den Fortschritt. Ich habe nicht die Vision einer besonderen Begabung, aber vertraue auf meine Fähigkeiten, ein eigenes Stück der Welt mit einer eigenen Ordnung und Struktur zu erfinden.

Otto Steidle starb am 28. Februar 2004 in Harpfing.

FIN

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